Intervista, 5 novembre 2022: NZZ; Daniel Gerny, David Biner
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NZZ: "Die Justizministerin will härter gegen unerwünschte Einwanderung vorgehen – zum Beispiel gegen Personen, die in einem Land ein Asylgesuch stellen und anschliessend in ein anderes Land weiterreisen. "Das geht nicht", erklärt Keller-Sutter im Gespräch mit Daniel Gerny und David Biner"
Bis Ende Dezember wird die Schweiz innert eines Jahres über 100 000 Flüchtlinge aufgenommen haben. Wann ist die Kapazitätsgrenze erreicht?
Die Situation ist angespannt, aber man muss die Gründe sehen: In Europa haben wir zum ersten Mal seit 1945 wieder einen Angriffskrieg. Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung wurde vertrieben, intern oder extern. Die Schweiz hat bisher 66 000 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen – das ist eine aussergewöhnliche Situation. Zwar steigen auch die ordentlichen Asylzahlen wieder an. Doch sie erreichen für sich alleine bisher nur ungefähr das Niveau von vor der Pandemie. Beides zusammen ist eine grosse Belastung und eine Herausforderung für Bund, Kantone und Gemeinden bei der Unterbringung. Es ist aber auch eine operative Frage, die sich lösen lässt, wenn alle gut zusammenarbeiten.
Womit die Frage noch nicht beantwortet ist, wo die Kapazitätsgrenze liegt: Wie viele Leute können in die Schweiz kommen?
Man kann keine Zahl nennen. Im Falle der Ukraine lässt sich das nicht steuern. Die Menschen können sich frei im Schengen-Raum bewegen und flüchten, solange die Lage nicht sicher ist. Es gibt Bombardierungen im ganzen Land – auch im Westen. Und wir wissen nicht, wie sich der Winter entwickelt. Es gibt zwar internationale Bemühungen, mit Heizungen und winterfesten Unterkünften vor Ort zu helfen, so dass die Leute möglichst in der Ukraine bleiben können. Auch der Bundesrat hat diese Woche zusätzliche 100 Millionen Franken gesprochen. Aber solange der Krieg andauert, bleibt die Unsicherheit.
Die Schweiz ist der Entwicklung also ausgeliefert?
Nein. Wir können etwas gegen jene Einwanderung tun, die wir nicht möchten: Wir möchten keine illegale Migration, wir möchten keine Sekundär-Migration, und wir möchten nicht, dass Leute zu uns kommen, die unseren Schutz nicht benötigen. Deshalb habe ich mit meinem österreichischen Amtskollegen bei der EU-Kommission wegen Serbiens Visumspolitik interveniert. Serbien lässt Flüchtlinge aus gewissen Staaten visumsfrei einreisen, die dann mit Schleppern über Ungarn und Österreich zu uns kommen. 50 Prozent der Personen, die von der Grenzwache aufgegriffen werden, kommen auf diesem Weg in die Schweiz. Auf Druck der EU hat Serbien jetzt reagiert. Wir können davon ausgehen, dass Serbien seine Visapraxis bis Ende Jahr ändern wird.
Sie haben in den letzten Wochen mehrfach angedeutet, dass der Kreml seine Hände im Spiel haben könnte bei der nachlässigen Migrationspolitik der serbischen Regierung. Gibt es dafür Belege?
Ich habe gesagt, dass meine Amtskollegen aus osteuropäischen Staaten diesen Verdacht äussern. Belegen kann das niemand. Klar ist: Migration kann Aufnahmeländer destabilisieren, und Russland wendet diese «Praxis» andernorts schon länger an. Meine litauische Kollegin hat mir vor kurzem gesagt, dass ihre Behörden immer noch bis zu 100 Übertritte pro Woche aus Weissrussland registrierten.
In der Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, die Lage im Migrationsbereich sei ausser Kontrolle. Die Asyl-Prognosen müssen laufend nach oben korrigiert werden.
Die Lage ist unter Kontrolle. Wir haben im Sonderstab Asyl schon Ende Juni gesagt, dass man im schlechtesten Fall wohl mit über 20 000 Asylgesuchen rechnen müsse. Dieses Szenario hat sich jetzt bewahrheitet: Seit Anfang Jahr haben wir rund 18 000 Asylgesuche, bis Ende Jahr könnten es rund 24 000 sein. Bund, Kantone und Gemeinden können diese Aufgabe aber gemeinsam bewältigen, auch wenn es mühsam und anstrengend ist.
Die Bundesasylzentren sind überlastet, die Situation wird dort als teilweise unzumutbar kritisiert.
Solange es der Schweiz gelingt, dass alle ein Dach über dem Kopf haben und ein korrektes Verfahren, scheint mir das in einer solchen Situation ausreichend – auch wenn die Unterbringung vielleicht nicht immer von Anfang an optimal ist. Es geht hier auch um die Ansprüche, die gestellt werden. Wir haben Krieg in Europa! In anderen Ländern schlafen Asylsuchende auf der Strasse oder in Zelten. Bei uns geht es um Zivilschutzanlagen. Ich finde, was für Schweizer Soldaten zumutbar ist, sollte auch für Asylsuchende zumutbar sein.
Es gibt weitere Hinweise, dass das System an Grenzen kommt: Das Staatssekretariat für Migration hat entschieden, Asylsuchende auf Schweizer Kantone zu verteilen, bevor das Asylverfahren abgeschlossen ist. Das widerspricht der Logik des revidierten Asylgesetzes.
Das ist falsch. Dieser Mechanismus ist im revidierten Asylgesetz genauso festgeschrieben. Es sieht explizit eine frühere Zuweisung an die Kantone vor, wenn die Gesuche rasch und erheblich ansteigen. Zudem sieht die Notfallplanung von Bund und Kantonen von 2016 vor, dass der Bund in einer angespannten Situation die Zahl der Plätze von 5000 auf 9000 erhöht. Das hat der Bund erfüllt, wir dürften mit den Militärstrukturen, die wir beanspruchen können, sogar auf gegen 10 000 Plätze kommen.
Das mag rechtlich korrekt sein, doch aus den Kantonen und den Gemeinden kommt die Kritik, dass der Bund das Problem damit einfach auf die Kantone abschiebe.
Welche Kantone meinen Sie?
Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr hat sich beispielsweise kürzlich in der NZZ so geäussert.
Die Kantone, die Städte und die Gemeinden sind im Sonderstab Asyl eingebunden, den ich im März eingesetzt habe. Das Einvernehmen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden ist sehr gut. Dass es auch einmal Kritik geben kann, ist in einer angespannten Situation normal, umso mehr, wenn es ins Wahljahr geht. Ich habe dafür Verständnis. Aber es ist auch mein Wunsch, dass wir möglichst rasch wieder zum normalen Vorgehen zurückkehren können.
Kritik kommt auch aus Deutschland: Die Schweiz schleuse Flüchtlinge, die in Buchs eintreffen, nach Deutschland und Frankreich. Die Schweiz verletzte damit ihre Pflichten als Mitglied des Schengenraums.
Dies sagte eine Parlamentarierin aus der Opposition. Bundesinnenminister Nancy Faeser, mit der ich unlängst Kontakt hatte, hat diese Aussage bedauert. Von den offiziellen Stellen kommt keinerlei Kritik.
Ist es Sinn des Dubliner Abkommens, dass Flüchtlinge durch ein Land hindurch in einen anderen Staat manövriert werden?
Die Schweiz hält sich an das Dublin-Abkommen. Dublin greift dann, wenn eine Person ein Asylgesuch stellt. Dann muss ein Verfahren eröffnet werden. Solange dies in der Schweiz nicht geschieht, können wir gar nicht prüfen, ob schon anderswo ein Gesuch gestellt wurde. Wir können diese Leute ja nicht einsperren und an der Weiterreise hindern, wenn sie ein gültiges Billett haben.
Man erhält den Eindruck, dass das Dubliner Abkommen nicht wirklich funktioniert, wenn Hunderte von Asylsuchenden quer durch Europa reisen.
Die Dublin-Rücküberstellungen funktionieren, wenn eine Person in einem zweiten Land erneut ein Asylgesuch stellt. Aber Sie sprechen eines der grossen Probleme an, nämlich die Sekundär-Migration: Leute, die in einem Land ein Asylgesuch stellen, etwa in Österreich, reisen danach in das Land ihrer Wahl weiter. Solange sie kein Gesuch in einem zweiten Staat einreichen, kann man heute dagegen wenig unternehmen. Das geht nicht.
Weshalb kann die Schweiz Personen, die illegal einreisen, nicht einfach nach Österreich zurückweisen?
Die Migranten werden von der Grenzwache kontrolliert. Sie sind illegal in der Schweiz, und sie werden aufgefordert, die Schweiz wieder zu verlassen. Man kann sie deswegen aber nicht festhalten. Und selbst wenn eine Rückweisung erfolgen würde, haben wir keine Garantie, dass die Leute nicht einfach am nächsten Tag wiederkommen. Dieses Problem gibt es übrigens an allen Binnengrenzen. Man darf bei alledem aber auch die Situation der Österreicher nicht vergessen: Sie haben wohl bereits gegen 80 000 Asylgesuche seit Anfang Jahr.
Man kann das Problem also nur international angehen. Was muss geschehen?
Genau. Der Schengener Grenzkodex wird derzeit revidiert. Danach sollen Rücküberstellungen zwischen Nachbarstaaten innerhalb von 24 Stunden möglich sein. Das begrüsse ich sehr. Wichtig sind zudem Abkommen, wie wir eines kürzlich beispielsweise mit Griechenland abgeschlossen haben. Aus Griechenland kommt sehr viel Sekundär-Migration. Wir unterstützen Griechenland unter anderem aktiv im Rückkehrbereich.
Wann rechnen Sie mit einer Abnahme des Migrationsdrucks?
Er wird nicht abnehmen – ganz im Gegenteil: Während die Bevölkerungszahl in Europa zurückgeht, könnte sie sich in den afrikanischen Ländern bis 2050 verdoppeln. 40 Prozent der Menschen dort sind jünger als 15 Jahre. Sie wollen dorthin gehen, wo es Wohlstand und demokratische Systeme gibt. Solange es nicht gelingt, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, wird sich am Migrationsdruck nichts ändern.
Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind in der Bevölkerung akzeptierter als die Flüchtlinge aus anderen Regionen, etwa aus Afghanistan. Erhöht diese Zweiklassengesellschaft den Druck, bei den regulären Asylanträgen restriktiver zu sein?
Die Akzeptanz für die Menschen aus der Ukraine ist grösser, das ist so. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass der Krieg in Europa ist – zwölf Autostunden von St. Gallen entfernt. Und dass 80 Prozent der Vertriebenen aus der Ukraine Frauen und Kinder sind. Das macht betroffen. Das Verständnis in der Bevölkerung ist aber weniger gross, wenn junge Männer hier Schutz suchen, nachdem sie bereits mehrere sichere Länder durchquert haben. Nach unserer humanitären Tradition bietet die Schweiz den Menschen Schutz, die ihn brauchen, weil sie an Leib und Leben bedroht sind. Wir wollen hingegen keine Wirtschaftsmigration unter dem Titel «Asyl».
Viele ukrainische Flüchtlinge würden diese Bedingungen, nämlich dass sie unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind, nicht erfüllen.
Der Status S wurde geschaffen, um bei einem spontanen und grossen Zustrom den Menschen, die vor Krieg und Gewalt flüchten, kollektiv und vorübergehend Schutz gewähren zu können, wie das jetzt bei der Ukraine der Fall ist. Das Asylsystem würde kollabieren, wenn man individuelle Asylverfahren durchführen müsste. Der Schutz gilt so lange, wie die schwere allgemeine Gefährdung anhält.
Es ist ein Rückkehr-orientierter Status, aber nach Rückkehr sieht es derzeit vorerst nicht aus. Wird der Schutzstatus verlängert – und für wie lange?
Der Status S muss nicht verlängert werden. Der Bundesrat hebt ihn auf, wenn die schwere allgemeine Gefährdung nicht mehr gegeben ist. Die Voraussetzungen dafür sind aber im Moment nicht gegeben. Die EU, die ein ähnliches System kennt, kommt zum gleichen Schluss. Es ist sinnvoll, sich hier international abzusprechen.
Die EU will den Schutz vorerst bis März 2024 gewähren. Gilt das also auch für die Schweiz?
Entscheidend bei dieser Frage ist die Sicherheitslage für die Menschen. Wenn die Sicherheit der Zivilbevölkerung etwa durch ein Friedensabkommen oder durch Schutztruppen garantiert ist, könnte der Bundesrat den Schutzstatus aber auch schon früher aufheben. Die Flüchtlinge würden dann aber nicht schon am nächsten Tag ausreisen. Schon nach den Jugoslawienkriegen gab es gestaffelte Ausreisefristen nach Aufhebung der kollektiven Aufnahme. Zuerst reisten alleinstehende Personen zurück, dann Familien, schliesslich Familien mit Kindern. Bereits im Juni habe ich dem SEM den Auftrag gegeben, die Rückkehr vorzubereiten. Diese Arbeiten laufen.
Und gleichwohl sind viele Balkan-Flüchtlinge hier geblieben. Der ukrainische Schriftsteller Andrei Kurkow meinte jüngst in der NZZ, dass wohl 30 Prozent der Flüchtlinge nicht mehr in die Ukraine zurückkehren werden. Hat er recht?
Erfahrungen des Kosovo-Kriegs zeigen: 80 Prozent sind danach wieder ausgereist. Eine Umfrage des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, des UNHCR, hat ebenfalls ergeben: Gut 80 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge wollen wieder zurück, sobald es die Sicherheitslage erlaubt. Und ich betone es noch einmal: Der Schutzstatus S gilt vorübergehend. Die Menschen müssen zurückkehren, wenn der Status aufgehoben wird.
Aber je mehr das Land zerstört wird durch den Krieg, umso schwieriger wird es sein, die Menschen zurückzuführen.
Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung wurde vertrieben. Es ist klar, dass es diese Menschen braucht, um das Land wieder aufzubauen. Die Rückkehr und der Wiederaufbau müssen gekoppelt und koordiniert sein.
80 000 Flüchtlinge aus der Ukraine und 24 000 Asylgesuche alleine im laufenden Jahr. Die Migration wird im kommenden Jahr zu einem emotionalen Wahlkampfthema. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen das Ganze um die Ohren fliegt?
Migration kann im Wahlkampf immer ein Thema sein. Aber im Asylbereich geht es derzeit vor allem um ein operatives Problem, nämlich genügend Unterkünfte zu stellen und die Verfahren effizient zu führen. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt. Dass die Migrationsfrage im Wahlkampf thematisiert wird, bereitet mir keine Sorgen. Mich beschäftigt die weltweite Wirtschaftslage viel mehr. Wir haben eine Stagnation in den USA. Im Euro-Raum droht eine Rezession, und die Wirtschaftsprognosen für China sind aufgrund der restriktiven Corona-Politik ebenfalls nicht gut. Dazu kommt die Frage der Energieversorgung, die uns noch über Jahre beschäftigen wird. Dasselbe gilt für die sinkende Kaufkraft als Folge der Inflation und die Verschuldung. Diese Gemengelage erachte ich als sehr schwierig.
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Ultima modifica 05.11.2022