«Wir müssen uns überlegen, den Schutzstatus S anzupassen»

Interview, 3. April 2024: NZZ; Daniel Gerny, David Biner

Der neue Justizminister Beat Jans hofft, dass die Asylzahlen zurückgehen, wenn die Verfahren beschleunigt werden. Von engmaschigen Grenzkontrollen hält er wenig, wie er im Gespräch mit Daniel Gerny und David Biner klarmacht.

Herr Bundesrat, am Wochenende kam es erneut zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen aus Eritrea. Was tun Sie, damit solche ausländischen Konflikte nicht in die Schweiz hineingetragen werden?
Wir akzeptieren solche Konflikte hier nicht, und ich fordere diese Gruppierungen auf, damit aufzuhören. Die Rechtslage ist klar: Die Kantone können solche Anlässe unterbinden, wenn sie befürchten, dass damit Gewalt verbunden ist.

Haben Sie also den Wunsch, dass die Kantone solche Anlässe künftig früher verhindern?
Entscheidend ist, ob die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Es ist jetzt bei eritreischen Veranstaltungen zum wiederholten Mal zu Ausschreitungen gekommen. Wenn Gewalt zu befürchten ist, müssen die Kantone die nötigen Entscheide fällen. Sie haben alle Möglichkeiten dazu.

Viele Leute fragen sich, weshalb Personen aus Eritrea in unserem Land Schutz geniessen, wenn sie doch das aktuelle Regime unterstützen.
Das hat mit einem Regimewechsel in Eritrea zu tun. Diese Personen leben teilweise schon lange in der Schweiz und haben einen Schutzstatus als vorläufig Aufgenommene oder als anerkannte Flüchtlinge. Dieser Status kann nicht einfach aufgehoben werden, sondern erst, wenn jemand beispielsweise straffällig geworden ist. Und selbst dann ist das Problem nicht gelöst: Weil Eritrea keine zwangsweise Rückkehr akzeptiert, können wir gar niemanden zurückschaffen. Dieses Problem hat nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa.

Seit Monaten sorgen auch Personen aus dem Asylbereich, die aus den Maghrebstaaten kommen, für Unmut. Die Kriminalstatistik zeigt, dass die durch diese Gruppe begangene Kleinkriminalität stark zugenommen hat. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Zuerst möchte ich betonen: Kriminalität ist nicht eine Frage der Nationalität, sondern der sozialen Umstände. Aus diesen Ländern kommen viele Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Viele gelangen mit Schlepperorganisationen hierher, in der Hoffnung, sie kämen in Europa zu Geld. Eine kleine Minderheit wird in der Folge kriminell. Dies allein erklärt die Zunahme bei den Vermögensdelikten allerdings bei weitem nicht. Ich vermute, dass das vorwiegend auf den Einbruchstourismus zurückzuführen ist.

Sie selbst wohnen in Basel in einem belasteten Quartier. Wie haben Sie die Zunahme der Delikte persönlich wahrgenommen?
Es stimmt, meine Töchter gingen neben der Dreirosenmatte zur Schule – einem Ort, wo viel mit Drogen gehandelt wird. Besonders in der Nacht kommt es dort auch zu Gewalt. Die Zahlen, die ich noch als Regierungspräsident gesehen habe, waren äusserst besorgniserregend. Für das betroffene Quartier stellt das eine enorme Belastung dar. Auch deshalb bin ich gewillt, dieses Problem möglichst rasch zu lösen.

Sie haben angekündigt, die 24-Stunden-Verfahren im Asylwesen auszuweiten. Auch dort stehen Personen aus den Maghrebstaaten im Fokus. Was bringt diese Massnahme?
Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Gesuche zurückgeht. Wenn sich in den Ländern mit tiefen Anerkennungsquoten herumspricht, dass in der Schweiz schnell entschieden wird und Personen mit abgewiesenem Gesuch auch gehen müssen, kommen hoffentlich weniger Leute hierher.

Wie verläuft die Zusammenarbeit bei der Rückschaffung von abgewiesenen Asylbewerbern in diese Länder?
Mit Algerien und Tunesien besteht ein Rückübernahmeabkommen, und die Zusammenarbeit funktioniert gut. Mit Marokko sind wir derzeit in einem intensiven Dialog. Es finden aber schon heute Rückschaffungen statt. Es gibt bei den Rückübernahmen ganz allgemein eine spürbare Verbesserung.

Weshalb?
Auch die Kantone sind bei den Rückführungen aktiver. Gleichzeitig ist das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit den betreffenden Staaten sehr intensiv im Gespräch. Neben der Rückkehr engagieren wir uns auch vor Ort. Auch die betreffenden Länder profitieren also von dieser Zusammenarbeit.

Und wie sieht dieses Engagement aus?
Ich habe mir das Abkommen mit dem Irak genauer angeschaut, das wir kürzlich verabschiedet haben. Dort leistet die Schweiz dem Land Unterstützung bei seinen eigenen Problemen im Flüchtlingsbereich. So betreibt die Schweiz im Irak zusammen mit Deutschland ein Zentrum, wo Rückkehrern beim Wiedereinstieg geholfen wird. Wir profitieren im Gegenzug von der Beschleunigung bei der Papierbeschaffung.

Die Asylzahlen sind noch immer hoch. Im laufenden Jahr rechnen Sie im Extremfall mit bis zu 39 000 neuen Gesuchen. Wie bringen Sie diese Leute unter?
Das gehört zu den grossen Herausforderungen. Wir rechnen damit, dass wir 2400 zusätzliche Plätze organisieren müssen. Nachdem das Parlament Unterkünfte in Containern abgelehnt hat, müssen wir andere Wege suchen. Einen Teil der Plätze können wir freispielen, indem wir die Verfahren beschleunigen und Pendenzen abbauen. Und wir brauchen die Unterstützung der Armee.

Sie stellen eine umfassende Asylstrategie in Aussicht, die mittelfristig wirken soll. Was haben Sie vor?
Die grosse Asylreform von 2019 funktioniert in vielen Bereichen gut, aber nicht überall. So nimmt ein Asylverfahren im Durchschnitt mehr Zeit in Anspruch, als dies ursprünglich geplant war. Deshalb überprüfen wir das Asylsystem jetzt. Es geht dabei auch um die Frage, welche Rolle der Bund und die Kantone am besten spielen können. Gleichzeitig wollen wir die Schwankungstauglichkeit verbessern – also dafür sorgen, dass eine plötzliche Zunahme von Gesuchen das System nicht sofort an seine Grenzen bringt.

Auch die umliegenden Länder verändern die Ausgangslage: Italien nimmt keine Dublin-Flüchtlinge zurück, und Deutschland hat systematische Grenzkontrollen eingeführt. Was bedeutet es für die Schweiz, wenn die Nachbarländer ihre Grenzen dichtmachen?
Ich bin nicht sicher, wie viel diese Grenzkontrollen wirklich verändern. Im Falle von Deutschland ist die illegale Einwanderung nicht stärker zurückgegangen als in der Schweiz. Die Wirkung ist klein, aber der Aufwand dafür ist gewaltig. Hinzu kommen negative Folgen wie Staus an den Grenzübergängen. Und das Problem der illegalen Einwanderung wird damit nicht gelöst.

Das sieht die deutsche Innenministerin Nancy Faeser offenbar anders: Sie hat die Grenzkontrollen mehrfach verlängert.
Wie gesagt: Ich bezweifle den Nutzen, aber wenn mir jemand mit Zahlen belegen kann, dass sich dieser riesige Aufwand wirklich lohnt, bin ich gerne bereit, darüber zu diskutieren. Ich fände es zwar bedauerlich, denn das Reisen ohne Grenzkontrollen ist eine grosse Errungenschaft. Aber ich bin nicht dogmatisch.

Was ebenfalls nicht gut funktioniert, ist die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt. Was wollen Sie hier verbessern?
Es gibt verschiedene Ansätze. Man muss sich etwa überlegen, wie die RAV, die regionale Arbeitsvermittlung, die Menschen bei ihrem Integrationsprozess besser unterstützen kann. Gespräche mit den Wirtschaftsverbänden haben zudem gezeigt, dass eine Art öffentlich-private Partnerschaft zielführend wäre.

Das könnten die Firmen heute schon machen, es passiert aber nichts. Warum?
Solchen Fragen nach den Hürden im Alltag werden wir vertieft nachgehen. Einen entsprechenden Bericht werde ich meinen Bundesratskollegen in der zweiten Jahreshälfte vorlegen. Zusätzlich müssen wir uns überlegen, den Schutzstatus S anzupassen. Eine Ukrainerin, die seit zwei Jahren in der Schweiz ist und hier einen Job findet, sollte die Möglichkeit haben, vom Schutzstatus in einen Aufenthaltsstatus zu wechseln.

Das wäre ein Paradigmenwechsel – und ein klarer Widerspruch: Der Schutzstatus S war von Beginn an rückkehrorientiert. Jetzt wollen Sie, dass sich die rund gut 65 000 Ukrainer hier im Land im Arbeitsmarkt integrieren und damit auch hierbleiben?
Eine Anpassung des Schutzstatus S ist derzeit lediglich eine von vielen Möglichkeiten, die wir in unsere Überlegungen einbeziehen. Dass der Status auf eine Rückkehr ausgelegt ist, hat mit der damaligen Annahme zu tun, dass der Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit endet. Danach sieht es im Moment aber nicht aus. Umso mehr müssen wir dafür schauen, die Erwerbstätigkeit der Flüchtlinge zu erhalten.

Das würde heissen, dass alle mit Status S in der Schweiz bleiben würden? Oder wollen Sie auch weiterhin dafür sorgen, dass so viele wie möglich wieder zurück in die Ukraine reisen?
Viele ukrainische Flüchtlinge kommen aus Gebieten, die bombardiert werden oder die total zerstört sind. Sie können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht zurückschicken. Wir müssen versuchen, eine rückkehrorientierte Integration anzustreben.

Was einen Widerspruch bedeuten würde.
Nicht unbedingt. Dieses doppelte Ziel ist im Gesetz so vorgesehen. Es ist besser, wenn die Menschen nach dem Krieg mit neu erworbenen Fähigkeiten in ihre Heimat zurückkehren, statt während dieser Zeit hier herumzusitzen. Aber wie gesagt: Das sind Gedanken, die wir uns machen, keine Versprechungen. Nicht dass es danach wieder heisst, ich sei ein Ankündigungsminister. (Lacht.)

Von den Flüchtlingen zur Arbeitsmigration: Sie plädieren im neuen Abkommen mit der EU für eine griffige Schutzklausel. Haben Sie konkrete Signale aus Brüssel, wonach die EU der Schweiz bei der Personenfreizügigkeit Zugeständnisse machen wird?
Nein. Und es ist klar, dass uns die EU in diesem Bereich nichts schenken wird. Es besteht aber für uns nach wie vor die Möglichkeit, Probleme rund um die Zuwanderung mit Begleitmassnahmen im Inland aufzufangen. Das gilt übrigens für alle Bereiche in den Verhandlungen: Das eine ist, was wir mit der EU verhandeln, das andere, wie wir das im Inland dann handhaben.

Sie plädieren also für Begleitmassnahmen im Bereich der Personenfreizügigkeit mit Inkaufnahme von Sanktionen seitens der EU. Welche konkreten Begleitmassnahmen schweben Ihnen vor?
Dazu kann ich hier nichts sagen.

Dann vielleicht etwas zu Ihrer Rolle in diesem Dossier innerhalb des Bundesrats: Werden Sie als EU-freundlicher Sozialdemokrat dafür sorgen, dass die Gewerkschafter wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren? Oder sind Sie schon froh, wenn Sie Ihre Bundesratsgenossin Elisabeth Baume-Schneider auf Ihre Seite bekommen?
Für den Bundesrat ist klar, dass der Lohnschutz sicherzustellen ist und dass die Verträge auch einen Mehrwert für die Arbeitnehmerschaft haben müssen. Wenn wir das nicht hinkriegen, wird das Paket am Schluss von der Bevölkerung nicht angenommen – das wissen alle, ob Sozialdemokrat oder nicht.

Sie sind seit Anfang Jahr im Amt. Jüngst kam die Kritik an Ihrer Asylpolitik vor allem von linker Seite. Wie gehen Sie mit dieser neuen Erfahrung um?
Das gehört zum Job. Ich wurde als SP-Bundesrat gewählt und bin jetzt Bundesrat für die ganze Bevölkerung.

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Letzte Änderung 03.04.2024

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